R. Sablonier: Gründungszeit ohne Eidgenossen

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Titel
Gründungszeit ohne Eidgenossen. Politik und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300


Autor(en)
Sablonier, Roger
Erschienen
Baden 2008: hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Alois Niederstätter

Noch heute fällt es der Geschichtsschreibung erstaunlich schwer, ihren Untersuchungsgegenstand aus dem Konnex zum «Nachher» zu lösen, ihn nicht als zwangsläufige Vorstufe späterer Vorgänge und Gegebenheiten zu sehen. Das gilt insbesondere für Gründungsgeschichten, die zudem wegen ihrer Befrachtung mit identitätsstiftender Ideologie ein schwieriges Terrain abgeben. Gerade das Schweizer Beispiel lehrt das eindrücklich. Roger Sablonier will sich daher mit der Situation in der Innerschweiz um 1300 beschäftigen, ohne «imaginäre Staatsvorfahren» zu bemühen, «aber auch ohne die Prämisse eines innerschweizerischen Kerns von schweizerischer Staatsexistenz voranzustellen» (S. 12) – eben eine von der Geschichte der Eidgenossenschaft abgekoppelte Untersuchung einer Alpenregion (unter vielen) bieten, die ihre Prägung nicht nur von Innen, sondern ganz wesentlich auch durch äussere Einflüsse erfuhr. Ohnehin bereits vollzogene Denkmalstürmerei ist nicht das Ziel, Sablonier gesteht einer vom jeweiligen Stand des wissenschaftlichen Diskurses abweichenden öffentlichen Geschichtskultur durchaus ihre Existenzberechtigung zu.

Da die Untersuchung mit überwiegend bereits bekanntem Quellenmaterial auskommen musste, waren neue methodische Zugänge erforderlich. So bestätigen die an einer Reihe zentraler Urkunden vorgenommenen 14C-Datierungen zumindest punktuell die Erkenntnisse der Kommunikationsforschung, dass auch in urkundlicher Form abgefasste Schriftstücke nicht ausschliesslich Rechtsakte zeitgenau protokollierten, sondern eben Geschichte erzählen. Für die ohnehin nur rudimentär entwickelte Spätmittelalter-Diplomatik erhält das Phänomen der Nachherstellung von Urkunden zum Zweck der Anpassung an veränderte Umstände wie als vollständige Neufassung wachsende Bedeutung. Selbst beim Bundesbrief von 1291, dessen Überlieferungsgeschichte problematisch genug ist, dürfte es sich um eine wohl am ehesten 1309 entstandene Nachherstellung handeln. Den Anlass wie den räumlichen Rahmen dafür gab offenbar die bevorstehende Einrichtung der Reichsvogtei der Waldstätte durch Heinrich VII. Sie bildete überhaupt das zunächst in der Region massgebliche Verfassungskonstrukt – nicht die zu dieser Zeit noch keineswegs «kommunal» verfestigten bzw. «territorialisierten» Verbände der Talschaftsbewohner. Reichsvogt wurde Graf Werner von Homberg, ein erfolgreicher Söldnerführer, der Ansprüche auf die Reste der bis in die Innerschweiz reichenden Talschaft Rapperswil besass. Ihn und sein militärisches Potential – Schwyzer Solddienste dürften sich schon in staufischer Zeit nachweisen lassen – gedachte sich das Reichsoberhaupt zu sichern. Habsburg war am Vierwaldstättersee einerseits durch die 1291 erworbene Stadt Luzern präsent, ebenso aber als potentieller Gegner Werners von Homberg, wobei es um das Rapperswiler Erbe, insbesondere um die Vogtei über das Kloster Einsiedeln und sein Grundholden, ging. Folgerichtig bringt Sablonier das Morgartengeschehen des Jahres 1315 in den Kontext der Streitigkeiten zwischen den Ansprechern auf die Rapperswiler Hinterlassenschaft und stellt zur Diskussion, ob nicht etwa kriegserfahrene Schwyzer Söldner im Dienst des Hombergers Herzog Leopold von Österreich überfallen haben, um dessen Herrschaftspräsenz in Einsiedeln zu verhindern. Jedenfalls bewirkte die habsburgische Niederlage, dass die Reichsvogtei der Waldstätte in der Hand des Grafen von Homberg blieb, bis dieser um 1320 in Italien ums Leben kam. Die Reichsvogtei ohne Reichsvogt bildete in weiterer Folge «eine Art verfassungsmässige Grundlage für das künftige Bündnishandeln der Länder» (S. 184). Übrigens ist die als Original geltende Schwyzer Fassung des aus aktuellem Anlass entstandenen Morgartenbriefs von 1315 auf einem Pergament geschrieben, das gemäss 14C-Altersdatierung nach 1390 hergestellt worden sein dürfte.

Das beträchtliche bäuerliche Unruhepotential, das etwa im Vorgehen der Schwyzer gegen das Kloster Einsiedeln ein Ventil fand und Leopold von Österreich auf den Plan rief, interpretiert Sablonier als Resultat eines tiefgreifenden Wandels: Grossviehhaltung begann, gefördert durch Stadtkontakte und Wirtschaftsbeziehungen nach Süden, an Bedeutung zu gewinnen, drängte die mischwirtschaftlichen Formen der Kleinbauern in die Defensive und löste nicht nur Konflikte um Nutzungsausscheidungen, sondern auch soziale Veränderungen aus. Grösser, als bisher angenommen, schätzt der Autor den Einfluss der Städte ein, die die Innerschweiz bereits um 1300 als ihr Hinterland anzusehen begannen, somit an Ordnung und der Entstehung von «Verfassungsschriftlichkeit» interessiert waren. Das belegt auch die Einbeziehung der Waldstätte – als Verfassungsgebilde insgesamt, nicht der einzelnen Talschaften – in den Städtebund von 1327. Dagegen spielte der Adel nur eine bescheidene Rolle. Verantwortlich dafür waren der späte und daher nur lückenhafte Feudalisierungsprozess, der Zerfall der Grafschaft Rapperswil sowie die starke Position der Klöster.

Und was bleibt von der Eidgenossenschaft? Über die Festigung des Wissens hinaus, dass sie als staatliches Gebilde in die Zeit nach 1450 gehört, vor allem die Erkenntnis, dass die eidgenössischen Eliten nicht nur ihre narrative Befreiungstradition schufen, sondern «im 14. Jahrhundert durch die Nachherstellung von Urkunden, erst recht dann im ausgehenden 15. Jahrhundert durch die Normierung der Archivüberlieferung [...]» (S. 207) ihre Geschichte zusätzlich formten.

Roger Sabloniers Arbeit zeigt eine methodisch höchst innovativ erschlossene alpine Region im Umbruch, in der auch ohne Freiheitsschlachten und Heldenschweiss spannende Prozesse abliefen, die der Autor zu einem sauber argumentierten Modell schlüssig zusammenfügen kann. Das auch für den Laien angenehm lesbare, vom Verlag sehr anspruchsvoll ausgestattete Buch darf mit Fug und Recht als ein Meilenstein der Schweizer Mediävistik wie auch der Quellenkunde des Spätmittelalters bezeichnet werden.

Zitierweise:
Alois Niederstätter: Rezension zu: Roger Sablonier: Gründungszeit ohne Eidgenossen. Politik und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300. Baden, hier + jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 1, 2009, S. 149-150.

Redaktion
Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 1, 2009, S. 149-150.

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